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VOLLE LEERE
Die Wirklichkeit als Arbeitsmodell
Eva-Maria Mehrgardt

"Volle Leere" Essay. In "Gestalttherapie. Forum für Gestaltperspektiven", Edition Humanistische Psychologie, 2008, Köln, DE

"[...] Der Gegenstand, die Sinnlichkeit, ist dann nur Vehikel des Ausdrucks. Kann es nicht ungegenständliche, noch nie bisher realsinnlich wahrgenommene Ausdrucksformen geben? Kunst kann Ausdruck sein. Sie kann auch Erforschung des Ausdrückbaren durch das Mittel des Ausdrucks sein. Sie kann zum psycho-analytischen Diagramm werden [...] Sie kann schließlich die Erforschung der möglichen Ausdrucksformen sein. Ausdrucksformen aber kann es nur geben, wenn es Seinsstrukturen gibt. Die Quantentheorie kann nicht mehr im Begriffsschema des an sich seienden materiellen Objektes, dem das denkende und empfindende Ich gegenübersteht, gedacht werden. Gleichwohl ist sie Wissenschaft, sie stellt das, was sie in seinem Sein kaum noch mehr bezeichnen kann, in der mathematischen Formel dar. Diese ist aber nur die Stenographie einer reinen Struktur. In der Struktur deutet sich uns etwas von den Bedingungen der Möglichkeit physikalischer Objekte und ihres Wahrgenommenseins an." (C. F. von Weizsäcker 1976, 249)

Ost und West

"Das Bild ist die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist nichts anderes als ein Bild." Dieser Satz hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich studierte schon einige Zeit buddhistische Philosophie, und diese Aussage traf für mich den Kern dieser Lehre, die in so unendlich vielen Schriften und Kommentaren aus dem alten Indien überliefert worden ist und die noch heutzutage an den tibetischen Klosteruniversitäten im indischen Exil gelehrt wird.
Erst in den letzten Jahrzehnten ist eine systematische Übersetzung der buddhistischen Schriften in Angriff genommen worden, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Diese Texte sind Übersetzungen und Kommentare in tibetischer Sprache, die in ihrer Originalsprache, dem Sanskrit, nicht mehr existieren, aber in den tibetischen Übersetzungen durch die Abgeschlossenheit Tibets bewahrt geblieben sind.
Der Inhalt dieser philosophischen Schriften betrifft, vor allem in der Gelugpa-Tradition des tibetischen Buddhismus, die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Definitionen unserer Wirklichkeit sowie Anleitungen zur Praxis der Meditation. Diese beiden, Theorie und Praxis, gehen immer Hand in Hand. Die Rahmenbedingungen einer empirischen, wissenschaftlichen Herangehensweise, in der die jeweiligen Thesen durch Untersuchungen bekräftigt und verifiziert werden, sind hier erfüllt. Mit derselben gewissenhaften Methodik, mit denen in den westlichen Ländern die materielle Außenwelt erforscht wird, wird in den asiatischen Ländern die Aufmerksamkeit auf unsere geistige Erscheinungswelt gerichtet, also nach innen. Es wird Zeit, dass der Westen diese Leistung anerkennt als das, was es ist: Eine Wissenschaft des Geistes. Buddhismus ist keine Religion in unserem Sinn, sondern darüber hinaus Lehrtradition und empirische Wissenschaft.
Die Geisteswissenschaften des Ostens bilden in ihrer Ausführlichkeit und Fülle das Äquivalent zu den Wissenschaften des Westens. Und erst zusammengenommen erfassen sie das gesamte Spektrum unserer menschlichen Möglichkeiten.

Aus einem Turnschuh wird keine Liebeserklärung

Denn dort sitzt kein halbverrückter Heiliger in herrlich nebliger Trance glückselig auf einer Bergspitze und weiß von nichts, sondern dieser Weise hat, wenn er da schon sitzt, ein knochenhartes lebenslanges Programm an Übungen durchlaufen. Ausgangspunkt ist, dass jeder Mensch als geistiges Wesen Einfluss auf die von ihm wahrgenommene Realität hat. Und dass dieser Geist niemals eine physikalische Ursache haben kann. Jeder Moment und alle Erscheinungen, ob nun geistig oder materiell, beruhen auf den ihnen vorangegangenen Momenten und Erscheinungen. Diese haben insofern Kontinuität, als dass aus einem Turnschuh nicht im nächsten Moment eine Liebeserklärung wird, noch dass eine Idee sich im nächsten Moment in der physikalischen Realität manifestiert. Diese Kontinuität wird Karma genannt, was übersetzt soviel wie Aktion heißt, ein schwierig zu ergründendes System von nicht linear verlaufenden Ursachen und Wirkungen.

Inneres Wissen

Hintergrund dieser Untersuchungen ist der unstillbarer Durst, das, was wir Realität nennen, zu erfassen und systematisch zu untersuchen. Um dies zu bewerkstelligen, wird nicht die äußere Welt betrachtet, sondern das Bewusstsein, das diese Realität wahrnimmt. Dabei ist Bewusstheit, als ein Zustand der Präsenz im gegenwärtigen Moment, der in verschiedenen Theorien unterrichtet und in der Meditation eingeübt wird, Prämisse. Um Präsenz zu erlangen, ist eine Konzentration vonnöten, die in der Lage ist, ihr Objekt, einsgerichtet, d.h. ohne Unterbrechung und im Endstadium der Praxis sogar tagelang, zu beobachten.

Radikaler Atheismus

Für uns ist Religion monotheistisch und mit Glauben und Sinnsuche verbunden, in Asien ist Religion eher die Befreiung von Unsinn. Samsara, der Kreislauf der Wiedergeburten, bezieht sich auf unser Verhaftetsein und unsere Identifikation mit den Inhalten der verschiedenen Erscheinungen unseres Daseins, ohne dass wir in der Lage wären, die dahinterliegenden Strukturen zu ergründen. Diese Strukturen unserer Wahrnehmung zu analysieren und in die Praxis des eigenen Erlebens zu integrieren, ist der Weg des Ostens. So nannte auch der Dalai Lama in einem Gespräch mit Studenten den Buddhismus einen "radikalen Atheismus". Anstatt als religiöse Doktrin kann man diesen als ein System inneren Wissens definieren, in dem die größte Aufmerksamkeit der Entwicklung von individuellem Gewahrsein gilt.
Was bei uns erst die Aufklärung geleistet hat, die Trennung von Glauben und Vernunft, war im Osten so nie ein Thema. Schon Jahrhunderte bevor Gautama, der historische Buddha, geboren wurde, hat sich die indische Religion der Definition von Wirklichkeit verschrieben, etwas, das für uns, die wir die unendlichen Götterwelten Asiens betrachten, schwer verständlich ist, sehen wir doch die Menschen vor ihren Göttern beten und ihnen Opfer darbringen. Aber schon das Brahman des alten Indien verkörpert den Gedanken der Nichtdualität. Alles ist letztendlich eins, und es gibt nichts da draußen, was sich in unserem Sinne, als eine außerhalb von uns stehende Entität, anbeten ließe.

Das Eine-ohne-ein-Zweites

Die Gegensätze verhüllen die ursprüngliche Einheit:
" Denn der Vedanta ist nichtdualistisch. Statt die Welt auf eine Unzahl ewig-geistiger Wesenheiten zu gründen, die – obgleich dem Wesen nach ihr entgegengesetzt – in die Substanz einer ewig-materiellen Sphäre eingebettet sind, behaupten die arischen Lehrer, dass es letztlich und grundsätzlich nur eine Substanz gebe, das Brahman, und dass dieses sich in das Blendwerk der Welt mit der Vielzahl ihrer sichtbaren Wesen entfalte. [...] Brahman ist das Eine-ohne-ein-Zweites, das allumfassende einzige 'Ding', das ist; ungeachtet der Tatsache, dass jeder Einzelne das Brahman gesondert erfährt, nämlich in seinem mikrokosmischen, psychologischen Aspekt als das Selbst." (Zimmer 1973, 277)
Die Bedeutung der direkten und persönlichen Erfahrung im östlichem Denken steht im Gegensatz zu den meisten philosophischen Traditionen des Westens. Wird dort die Abgrenzung des Ichs als Träger der Seele entwickelt wird hier die eigene Persönlichkeit als eine reine Informationsstruktur in jahrelanger Kleinarbeit entmantelt und transparent gemacht, und diese Durchlässigkeit, dieser offene Raum, fungiert dann als Basis der Umwandlung.

Über Eternalismus und Nihilismus hinaus

Ob ein nichtdualistischer Grund auf subtile Art außerhalb der wahrnehmbaren Realität besteht oder nicht, ist ein wichtiges Thema innerhalb aller indischen philosophischen Schulen. In der buddhistischen Philosophie wird die Natur der Phänomene jenseits der Grenzen von Eternalismus und Nihilismus definiert:
" Die letztendliche Natur der Existenz wird über die Grenzen des Eternalismus hinaus definiert. Ein Prinzip, das als ewig und unveränderlich angesehen wird, könnte nicht mit Handlung ausgestattet und die Schöpfung demzufolge nicht sein Werk sein. [Anm.: Nach der buddhistischen Philosophie ist in der Handlung das Prinzip der Bewegung impliziert und in dieser das der Zeit, daher kann das, was als 'ewig' definiert wird, logischerweise nicht in Aktion treten und somit der Zeit unterworfen werden.] Würde man hingegen behaupten, dem Höchsten Wesen sei die Fähigkeit zu handeln gegeben, ergebe sich daraus automatisch dessen Vorläufigkeit. [...]
Die Natur des Seins wird auch über die nihilistischen Grenzen hinaus definiert. Es existiert in der Tat keine Wirkung, der nicht eine Ursache zugrunde liegt." (Norbu 1999, 208f.)
Die Einheit allen Seins oder die Nichtdualität und die Möglichkeit einer direkten Erfahrung derselben, ist im Dzogchen1 das Ziel aller Übung. Sie wird, als die Natur des Geistes, als "Leere von inhärentem Bestehen" oder "Selbstlosigkeit"2, in allen Schulen leicht unterschiedlich definiert, und die Wege dorthin sind so vielfältig wie die unterschiedlichen Anlagen der Praktizierenden, aber die Art der Suche ist dieselbe.

Wahrnehmung und Programmierung

Ziel ist es, die eigene Programmierungen zu durchbrechen und zu einer direkten, unmittelbaren Erfahrung zu gelangen. Dieser Weg ist kein therapeutischer, er heilt nicht, was gestört ist, er schafft keine Stärkung von Identität, sondern er sucht im Gegenteil diese zu durchbrechen und eine Auflösung dieser (falschen) Identität zu erreichen. Es ist die Suche nach einem weiteren Horizont oder gar auch dessen Auflösung. Horizont bedeutet immer, Position einnehmen, eine Stellung beziehen, einen Standpunkt verteidigen, bedeutet Grenzen ziehen gegen das Andere und ist insofern ein erster Moment von Gewalt. Natürlich heißt das nicht, dass wir das, was uns erhält und das unsere Identität auf konventionellem Niveau ausmacht, in Zweifel ziehen oder gar auf den Müll werfen sollen. Wir wollen nur das ganze Bild, und das Eine schließt das Andere nicht aus.

usw. and so on ......

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