Aus "Selbst und Selbstlosigkeit. Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien". Kapitel 6 Annäherungen des Ostens: Dialog im Zwischen Eva-Maria Mehrgardt Ausschnitt:
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Kapitel 4.6.3. Transzendenz der Möglichkeiten Für uns ist dies eine Aufforderung zum Zaubern, die - wenn mit allen Implikationen begriffen - kaum nachzuvollziehen ist. Wir sind zu sehr gewohnt, die Wirklichkeit und die Schuld an der Wirklichkeit außerhalb unserer selbst zu suchen. Nagarjuna, ein Philosoph des alten Indien, sagt deshalb: "Für denjenigen, für den die Leere möglich ist, ist alles möglich." (nach Hopkins 1983, 404). So manches Mal während unserer Unterrichtszeit haben wir uns gefühlt wie der Zauberlehrling Goethes, der die Fluten, die er hervorgerufen hat und die alles zu überfluten drohen, nicht mehr im Griff hat. Glücklicherweise erscheint dann, hier wie da, der Meister, der denselben Weg schon einmal gegangen ist und der die Übersicht behält (vgl. auch Gopi 1972). Wir sagen hier also, dass mit dem Postulat der Selbstlosigkeit die Wirklichkeit, so wie wir sie kennen und wahrnehmen, als so nicht bestehend entlarvt wird, und dass man aus der Potenz der Leere von inhärentem Bestehen heraus sich die Welt nach eigenem Gutdünken neu erschaffen kann. Dass dies nicht ohne Gefahren vnstatten geht, ist selbstverständlich. Hier ist vor allem eine Ethik nötig, eine Ethik, die aus dem Bewusstsein der Einheit geboren wird; denn durch das Gewahrsein von Nicht-Dualität wird man sich automatisch nicht nur mit sich selbst, sondern mit allen anderen lebenden Wesen, und vielleicht sogar mit aller uns lebenslos erscheinenden Materie, identifizieren können. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass die Wirklichkeit außerhalb unserer selbst unter Umständen nichts anderes ist als eine Reflexion unseres eigenen inneren Zustandes, der die Folge unserer eigenen Handlungen und Wirkungen ist. Damit wird die Wirklichkeit - oder besser: die Reflexion der Wirklichkeit - ein Zeichen unserer innerlichen Dispositionen und Dimensionen. Der Versuch, im eigenen Leben diese Position einzunehmen und alles, aber auch wirklich alles, als eine Reflexion der eigenen Person oder der konventionellen Inhalte dieser Person anzusehen, gibt dem Alltag eine interessante Dimension und kann außerdem als ein nettes Spiel aufgefasst werden. Man wird staunen, was sich einem an Möglichkeiten so bietet, und das Leben wird so sicherlich um einige Überraschungen reicher sein. Die Übungen, die notwendig sind, um dieses ganz zu erfassen, lassen sich einerseits auf den gemeinsamen Nenner des Positionswechsels bringen. Andererseits ist mit dem Glauben an die inhärente Buddhanatur eines jeden lebenden Wesens, der sich automatisch mit der Erkenntnis der Leere ergibt, eine positive Haltung eingenommen oder einzunehmen. Da Haltungen und Neigungen treibende und richtungsweisende Faktoren sind spielen sie eine wichtige Rolle. Aus dem ganzheitlichen Bild unserer Wahrnehmung, das eigentlich ein unterschiedsloses Ganzes ist, selektieren wir - meist unbewusst - einzelne Formen in der Gestalt von Bildern, Tönen usw. und geben ihnen eine bestimmte Bedeutung, indem wir diese benennen. Wir nehmen sie also praktisch aus dem Ganzen heraus und isolieren sie von ihrem Umfeld, wodurch sie, da sie nicht mehr im richtigen Verhältnis gesehen werden, verzerrt werden. Dies meinen die Vertreter der Prasangika-Schule, wenn sie von nur bezeichneter Wirklichkeit reden; denn diese vorgefertigten Bilder legen sich, oft verstärkt durch Emotionen wie Wünsche oder Ängste, wie ein Schleier über unsere Wahrnehmungen und schaffen eine Welt voller Gegenüberstellungen und scharfer Kontraste. Etwas wird aus seinem Kontext gelöst und so zum Träger von Bedeutung. Damit geschieht etwas, das sich mit einer Aufnahme auf ein Filmnegativ vergleichen lässt. Ein bestimmtes Bild wird auf einen Bedeutungsträger, in diesem Fall auf den Film oder aber, bei den Bewusstseinsvorgängen, auf das mentale Kontinuum projiziert und als Eindruck festgelegt. Je öfter wir einen bestimmten Eindruck oder eine Aufnahme wiederholen, desto bestimmender für unseren Zustand wird er werden. Diese Eindrücke formen dann den Inhalt unseres Denkens und Handelns, und mit jedem kleinen Reiz kann so ein Eindruck stimuliert werden und zur Reife kommen. Wie oft denken wir nicht an etwas, das wir uns wünschen, z. B. eine Taschenuhr? Wieviel Filmband belichten wir wohl so mit einem einzigen Bild, und was für einen Effekt haben Meter um Meter Film von dieser Taschenuhr auf unser Bewusstsein, wenn wir davon ausgehen, dass die Ursachen, die wir hier nur rein mental schaffen, in ihrer Art irgendwie mit ihren Wirkungen in einem Zusammenhang stehen müssen? Und diese Ursachen resultieren irgendwann einmal - durch ihr Gerichtetsein auf genau dieses und eben nicht jenes, stimuliert durch irgendeinen Vorgang, der natürlich auch wieder seine Gründe in vorherigen und/oder zukünftigen Momenten hatte - in allem möglichen Gewünschten oder auch Unerwünschten. Wie auch immer, die Kontrolle über diese Vorgänge ist uns im allgemeinen nicht gegeben, und wir empfinden das als einen äußerst unangenehmen, ja, sogar lächerlichen Zustand. Im günstigsten Fall ist das Resultat dann wirklich "Taschenuhr". Haben wir aber das Geld für diese gerade nicht und kriegen wir sie auch nicht geschenkt, ist das Resultat ein unruhiger Geist. Sogar wenn wir die Uhr wirklich bekommen, ist der Eindruck, der entsteht, eben ein Erfüllter-Wunsch-Eindruck, und durch die Gewöhnung an derartige Funktionsfolgen wird der nächste Wunsch nicht lang auf sich warten lassen, bis wir, wo wir auch gehen und stehen, nur noch Uhren, Autos, Motorräder und schöne Kleider sehen und dadurch unserem Film einen recht merkwürdigen und einseitigen Inhalt geben. Lama Anagarika Govinda sagt im Vorwort zum Tibetischen Totenbuch: Wir abstrahieren also von der Wirklichkeit, indem wir nur ganz bestimmte Aspekte verstärken und andere beiseite lassen. Wir haben durch diese Selektion eine begrenzte Wahrnehmung von eben dieser Wirklichkeit. Diese subjektive Gruppe von Mustern wird einerseits durch eine bestimmte Haltung geschaffen, aber auch verstärkt und instandgehalten durch eben diese Haltung , eine Kraft, die - zu-sammen mit der Intensität der Emotionen - unser Verhalten richtet. Diese entsteht dadurch, dass wir das Bild der Welt, das wir geschaffen haben, jetzt auch mit Nachdruck verteidigen müssen. 6.1. Sprache der Offenheit
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